Naam oder Das Wort

 

Sant Kirpal Singh

 

 

Hermann Schütz Verlag
Berlin 1970

 

 

Dem Allmächtigen Gott gewidmet
der durch alle Meister wirkt, die gekommen sind
und Baba Sawan Singh Ji Maharaj
zu dessen Lotosfüßen der Autor
das Heilige Naam – das Wort –
aufnahm

 



 

 

Prajapatir vai idam-agre asit
Tasya vak dvitiya asit
Vak vai Paramam Brahma

Im Anfang war Prajapati (der Schöpfer)
Bei Ihm war Vak (das Wort)
Und Vak (das Wort) war wahrhaftig
der höchste Brahma

Veden

 


 

Vorwort

An den aufrichtigen Sucher

Es gibt einen Upanishadentext, der uns sagt, daß es nur eine Wahrheit gibt, obwohl sie durch die Weisen auf verschiedene Art beschrieben wurde. Sie zu definieren, hieße, sie zu begrenzen; und da die Wahrheit, (d. h. die ganze Wahrheit) grenzenlos ist, bleibt sie ihrer Natur nach undefiniert. Sie ist mehr eine Sache der inneren Erfahrung und Verwirklichung als eine des Verstehens und Begreifens auf intellektueller Ebene.

„Der sicherste Weg zur Wahrheit ist der durch die Wahrnehmung, durch Intuition, durch Verstehen bis zu einem gewissen Grad, und dann, indem man einen tödlichen Sprung tut“, sagt Henri Bergson, der große Philosoph.

Wiederum ist „wahres Erkennen eine Tätigkeit der Seele und gänzlich ohne die Sinne“, sagt Ben Jonson. Die Wirklichkeit kann nicht durch die Sinne erkannt werden, noch durch das Gemüt oder den Intellekt; auch nicht durch die Lebensenergien, welche das physische Gefüge gleichwie das Universum und das Individuum in Gang halten.

„Der Mensch ist eine kleine Welt, die aus Elementen
und einem engelsgleichen Geist geschickt erschaffen wurde.“

J. Donne

Er ist ein zusammengesetztes Wesen, welches die physischen, feinstofflichen und kausalen Prinzipien in sich vereint: den Körper, den individuellen Geist, das Überbewusste und die Seele, eines nach dem anderen; und letztere ist der Ursprung allen Lebens, nein – das Lebensprinzip selbst, das allem, was lebt, Antrieb gibt.

Innerhalb der allumfassenden animalischen Instinkte besteht ein geheimer Drang, der einige wenige Auserwählte zum Überschreiten der animalischen Impulse treibt, was zur völligen Interesselosigkeit dem Weltlichen gegenüber führt, durch absolute Geringschätzung des tierischen Egos auf der einen Seite und freiwillige Unterwerfung an einen selbstgesuchten Tod auf der anderen, trotz des starken Widerstandes der äußeren Einflüsse, Neigungen und des Ego, welche sich der inspirierten Seele entgegenstellen. Es gibt eine subtile Verbindung von einem Mysterium zum anderen, von der unbewussten Seele zur unbewussten Wirklichkeit. Und nur an einem bestimmten Punkt im Gefüge des Lebens scheint die verborgene Wahrheit die umhüllenden Schleier der Unwissenheit zu durchbrechen, und dies geschieht nur, wenn man imstande ist, die Seele von den Dingen des Lebens zu befreien. John Keats, der große Dichter der Romantik, spricht von diesem glückseligen Zustand auf seine eigene unnachahmliche Weise:

„Worin liegt Glückseligkeit? In dem, was unsere bereiten Herzen zu einer Gemeinschaft mit dem Göttlichen ruft; zu einer Gemeinschaft mit dem Wesenhaften, bis wir ganz verwandelt in göttlichem Glanz erstrahlen, und frei sind vom Raum.“

Das Geheimnis der Wahrheit liegt folglich im kleinen „großen Selbst“ des Menschen; dem anscheinend kleinen, unbedeutenden Ding, das im mächtigen Wirbel des Gemüts und der Materie vernachlässigt und beiseite gestellt wird und nahezu verloren ist – und dem doch so großen Wesen, wenn es einmal zu sich kommt, nachdem es die Gefängnisschranken des Lebens, das Leben der Sinne durchbrochen hat, das es die ganze Zeit über gefangen hielt. Der innere Mensch oder die Seele im Menschen muss deshalb von den Fangarmen des äußeren Menschen, der aus Gemüt und Materie besteht, befreit werden, bevor sich das Selbst zum Selbstbewusstsein erheben kann und des kosmischen Bewusstseins gewahr wird. Dies alles ist durch einen Prozess der Selbstanalyse und das Zurückziehen der Sinnesströme praktisch möglich; und es ist nicht etwas aus der Vorstellung Erdichtetes, oder ein vergebliches Bemühen, wie die meisten von uns denken mögen. Da die Selbsterkenntnis der Gotterkenntnis vorausgeht, haben alle Weisen und Seher seit undenkbaren Zeiten auf Gnothi Seauton oder nosce te ipsum, wie es bei den Griechen bzw. Römern genannt wird, Nachdruck gelegt. Und um sich selbst zu erkennen, muss man sich vom Sinnenleben frei machen. Es ist genau das, was Jesus meinte, wenn er lehrte: „Wer das Leben findet, wird es verlieren“ und „Wer sein Leben verliert, der wird es finden.“ So hat man zwischen den beiden Leben zu wählen: dem Leben der Sinne und des Fleisches einerseits, und dem Leben des Geistes und der Bewusstheit andererseits, denn man kann nicht beides zu gleicher Zeit haben. Und solange man nicht imstande ist, sich über das Körperbewusstsein zu erheben, kann man nicht die Wahl zwischen diesen beiden treffen. Keiner kann zwei Herren dienen; denn entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird zu dem einen halten und den anderen verschmähen.

Guru Nanak hat gesagt:

„Ohne das tatsächliche Überschreiten des Geistes hört der magische Zauber der Welt nicht auf.“

Das ist der Weg, der zur Wahrheit oder zu Gott führt. „Die Wahrheit ist eine“, sagt Guru Nanak, „und sie kommt als reines und einfaches Geschenk von einem Meister der Wahrheit.“ Wenn wir nun sagen, sie ist eine, so ist auch das nicht ganz korrekt, denn es bedeutet, das Grenzenlose zu begrenzen und das Unendliche zu beschränken.

Darum sagt Kabir von Gott und der Wahrheit:

„Wenn ich sage, Er ist einer, so ist auch das unrichtig; die Vorstellung einer Zweiheit in Ihm ist Blasphemie. Er ist, was Er ist, weder der eine, noch der andere, doch etwas, das ganz ist und sich selbst enthält.“

Die Zahl „eins“ ist nur ein Hinweis und soll das Große Wesen, das über jeder Bezifferung steht, anzeigen.

Guru Nanak sagt uns über die Wahrheit:

„Die Wahrheit war, als da nichts war;
die Wahrheit war vor dem Beginn aller Zeiten;
die Wahrheit besteht jetzt, o Nanak,
und sie wird in alle Ewigkeit sein.“

Jap Ji

Die Absolute Wahrheit kann man sich natürlich nicht vorstellen, aber als sie ins Sein kam, waren ihre ersten Offenbarungen das Licht- und Tonprinzip. Zusammengefasst wird es „Nad“ in den Veden; „Udgit“ in den Upanishaden; „Sarosha“ im Zend-Avesta; „das Wort“ in den Evangelien; „Kalima“ im Koran; „Naam“ oder „Shabd“ im Granth Sahib genannt – das alles den zwiefachen Aspekt des göttlichen Wesens, oder des schöpferischen Lebensprinzips in der Natur bezeichnet.

„Ohne Namen und bar jeder Form ist Er, und dennoch sind alle Namen und Formen die Seinen.“

Die großen Rishis und Munis hatten, wie uns berichtet wird, einen direkten inneren Kontakt mit der Wahrheit oder Gott im Innern. Moses wurden die heiligen Vorschriften des Dekalogs oder die Zehn Gebote inmitten von Blitz und Donner gegeben, was den zweifachen Aspekt der Wahrheit anzeigt. Der Prophet Mohammed musste sich seinen Weg durch den Mond bahnen – Shaq-ul-Qamar – als er auf den Schwingen des Blitzes (Burq) emporstieg. Prinz Siddharta wurde, nachdem er das Licht im Innern berührt hatte, als Buddha oder der Erleuchtete bekannt. Christus versicherte seine Nachfolger seiner wahren Natur nicht in eitlen Worten, wenn er sagte:

„Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt,
der wird nicht wandeln in der Finsternis,
sondern wird das Licht des Lebens haben.“

Joh. 8, 12

Und wieder:

„Wenn dein Auge einfältig ist, wird dein ganzer Leib licht sein.“

Matth. 6, 22

„Mystizismus“, sagt Dean Inge, „ist der Kern der Religion“. Die Sprache verfügt nicht über ausreichende Mittel, die übersinnlichen Erfahrungen der Mystiker wiederzugeben. „Das Licht scheinet in der Finsternis und die Finsternis hat‘s nicht begriffen“, ist das allgemeine menschliche Los heutzutage.

„Der menschliche Geist kann durch die tiefsten menschlichen Konflikte und Negationen zu Gott zurückkehren ... (und durch) gänzliches Verneinen seines begrenzten Wesens.“

A. C. Bradley

Walter de la Mare vermittelt uns in seinen „Träumen“ einen Schimmer davon:

„Und einmal – von Seelenqual befreit – bemerkte ich im Schoß der Nacht einen runden, verflochtenen Lichtkörper. Keine Zunge vermag zu schildern, wie ich erschauerte vor dieser Schönheit, und ich erkannte sie als des Lebens Zitadelle.“

Die Seele und Gott wohnen im heiligen Tempel des menschlichen Körpers zusammen; aber unglückseligerweise hat einer den anderen nicht erkannt. Über diese angeborene Verbindung sagt die heilige Katharina:

„Gott ist in der Seele und die Seele ist in Gott,
so wie das Meer im Fisch ist und der Fisch im Meer.“

Aber können wir diese beseligende Schau haben? Ja, sagen die Meister, so sicher wie zweimal zwei vier ist.

„Empfinden wir diese Dinge? Dann sind wir im selben Augenblick in eine Art Einssein
hineingeschritten, und unser Zustand gleicht dem eines schwebenden Geistes.“

J. Keats

Um zu dem Punkt, von dem wir ausgegangen sind, zurückzukehren, nämlich, dass die Wahrheit unendlich ist und nur im Innern erkannt und nicht verstandesmäßig begriffen werden kann, wollen wir uns den Ansprüchen zuwenden, welche die Wissenschaft erhebt. Auch die Wissenschaft erklärt, dass sie der Wahrheit auf eine objektive und losgelöste Weise nahe zu kommen sucht, der „wissenschaftliche Weg“ genannt; und die meisten ihrer Anhänger gehen sogar so weit zu sagen, dass die Wissenschaft das einzige Mittel zum Erlangen der Wahrheit sei, da Mystizismus und spirituelle Verwirklichung zu persönlich seien, zu subjektiv und ein zu seltenes Phänomen, um daran glauben zu können. Aber kann uns die Wissenschaft wirklich zur Wahrheit bringen? Können wir ihre Erkenntnis mit der Wahrheit gleichsetzen? Enthält nicht die Wahrheit ein Wissen, das sich nicht nur auf die verschiedenen Objekte bezieht, welche sich aus dem Ganzen, das vorhanden ist, zusammensetzt, sondern auch auf ihre gegenseitigen Beziehungen bis zu ihrem feinsten Ausmaß, und ist dieser Aspekt der Wahrheit nicht der bedeutendste? Natürlich, die Wissenschaft gibt uns ein erwiesenes Wissen über die Objekte und bis zu einem gewissen Grad auch über ihre gegenseitigen Beziehungen. Aber auf der anderen Seite scheint die Wissenschaft, zumindest gegenwärtig, ein endloser Prozess zu sein, denn die Ergebnisse von heute sind zeitlich überholt durch diejenigen von morgen. So ist ihre Schilderung der Wahrheit, welcher Art sie auch immer sei, eine, die sich immer verändert, und so kann es sich hier wirklich niemals um eine Beschreibung der Wahrheit handeln, denn die Wahrheit ist ihrer Natur nach unveränderlich und unwandelbar. Die Anhänger der Wissenschaft sehen diese bedeutsame Begrenzung der Wissenschaft nicht, denn sie halten Wissen fälschlicherweise für Wahrheit und vergessen, dass, wenn die Wissenschaft unser einziger Weg zur Wahrheit wäre, der Mensch niemals hoffen könnte, das Ziel zu erreichen. Betrachten wir die andere Seite des Bildes, die Seite, die wir schon erörtert haben, so gibt es hier das unbestrittene Zeugnis der Heiligen und Mystiker, die uns sagen, dass die Wahrheit vom Menschen verwirklicht werden kann, und die weiter erklären, dass, wenn man sich mit dem objektiven Wissen befasst, dies einer Zerstreuung der Wahrheit gleichkommt. Die Dichter sprechen von intuitiven Augenblicken, wenn sie die Gegenwart einer spirituellen Einheit hinter der materiellen Vielheit fühlen.

„Und ich habe eine Gegenwart gefühlt, die mich durch die Freude erhabener Gedanken erregte: eine Empfindung von etwas, das mit meinen tiefsten Tiefen verwoben ist, dessen Wohnung das Licht von untergehenden Sonnen ist, und das ganze Meer und die lebendige Luft, und der blaue Himmel, und der Geist des Menschen.“

Wordsworth

Indes sagen uns die Mystiker aller Zeiten und Länder einstimmig, dass diese innere Wirklichkeit oder Wahrheit nicht einzig Sache der Intuition und des Gefühls sei, vielmehr eine tatsächliche, übersinnliche Erkenntnis. Und in diesem Zusammenhang enthüllt das Studium des Yoga – insbesondere das des Surat Shabd Yogaseine Bedeutung. Wenn wir wirklich die Wahrheit suchen, können wir nicht zulassen, dass die Spiritualität übergangen wird, wie es so viele moderne Denker tun wollen; denn sie ist der Pfad zur Wahrheit und, wie bereits angedeutet, vielleicht der einzige Pfad. In diesem Zusammenhang wurde der Versuch unternommen, im vorliegenden Buch die Grundvorstellung der verschiedenen Worte zu erklären (die natürlich die gleiche ist, trotz der endlosen Vielfalt der Benennungen), die von den Meistern gebraucht werden, um den Unaussprechlichen in Seiner ursprünglichen Offenbarung zu bezeichnen – den Lebensstrom, der die unendliche Schöpfung hervorbringt, erhält und regiert.

Mein tief empfundener Dank geht besonders zu Shri Bhadra Sena und anderen, die sich in ihrer Unterstützung, dieses Werk herauszubringen, so viel Mühe gegeben haben und viele Stunden für diesen Liebesdienst aufwandten.

 

KIRPAL SINGH
Sawan Ashram, Delhi

 


 

Inhaltsübersicht

An den aufrichtigen Sucher

Naam oder Das Wort

Hari Naam und Ram Naam

Hari Ras

Shabd oder das Tonprinzip

Panch Shabd oder die fünf Melodien

Amrit, der Nektar oder das Wasser des Lebens

Kirtan – himmlische Weisen oder göttliche Harmonie

Bani und Gurbani – Schriften und innere Musik

Gur Mantra – des Meisters Wort

Vakhar – ein wahrer Handel

Deeksha – Initiation

Gyan oder Jnana (Wissen – Erleuchtung)

Charan Kamal – die Lotosfüße des Meisters

Charan – Kamal – Dhur

Anhang – Zeugnisse der verschiedenen Religionen

Glossarium

 


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